Im März 2020 untersagte der Bundesrat Veranstaltungen von mehr als 100 Personen. Er begründete dies mit der «ausserordentlichen Lage» wegen Corona. Für politische Veranstaltungen wie Demonstrationen durften die Kantone aber Ausnahmen bewilligen. Später schränkten einzelne Kantone wie Bern die Teilnehmerzahl noch mehr ein.
Gegen das Bundesverbot klagte der Genfer Gewerkschaftsdachverband Communauté genevoise d’action syndicale direkt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und erhielt recht. In seinem Urteil vom März 2022 stellte der EGMR fest, die Schweiz habe mit dem allgemeinen Verbot von öffentlichen Veranstaltungen gegen das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention verstossen.
Im Verlauf der Pandemie änderte der Bundesrat die Corona-Bestimmungen mehrfach. So erhielten die Kantone das Recht, Einschränkungen zu beschliessen, die noch weiter gingen als die aktuell geltende Corona-Verordnung des Bundes. Diese hatte politische Kundgebungen erlaubt, sofern die Maskenpflicht eingehalten wird.
Der Kanton Bern wollte die erlaubte Teilnehmerzahl bei Demonstrationen auf 15 Personen beschränken. Vor Bundesgericht hielt die Verschärfung nicht stand, sie wurde als rechtswidrig beurteilt. Im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat habe die Versammlungsfreiheit einen hohen Stellenwert. Sie sei für die Meinungsbildung zentral und habe eine Ventil- und Kontrollfunktion, so das Bundesgericht. Mit Demonstrationen könnten gerade Minderheiten auf ihre Anliegen aufmerksam machen. Dabei habe die Teilnehmerzahl einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung der Kundgebung, die Appell- und Publizitätswirkung steige mit der Teilnehmerzahl. Bei einer Beschränkung auf 15 Personen sei diese Wirkung praktisch nicht mehr vorhanden, das Demonstrationsrecht werde seines Gehalts entleert, heisst es im Urteil.
Anders entschied das Bundesgericht im Fall von Uri. Die Kantonsregierung hatte die maximal zulässige Teilnehmerzahl bei Demonstrationen auf 300 Personen festgelegt. Bei dieser Anzahl werde die Appell- und Publizitätswirkung nicht übermässig beeinträchtigt, die Begrenzung erweise sich damit als verhältnismässig, entschied das Bundesgericht.